Die Ethik des Alt-Heidentums

Wenn man die alte Religion der Vorfahren aus den nicht so reichlichen Quellen rekonstruiert, dann steht man irgendwann vor dem Problem, daß zu einer Religion, die dem einzelnen Menschen auch Anleitungen für ein richtiges, also den Göttern gefälliges Handeln geben soll, eine ausgearbeitete ethische Lehre dazugehört. Leider ist es aber bei den germanischen Überlieferungen so, daß ethische Regeln nur indirekt zu finden sind und es daher viel Mühe braucht, um daraus wieder eine vollständige ethische Lehre zu entwickeln.

Eine Ethiklehre kann man nicht einfach aufstellen, man muß sie begründen. Wenn man sich bei ethischen Regeln auf die Götter beruft, müssen die entsprechenden Quellen auch genau angeführt werden. Aber auch wenn man Regeln findet, die die Götter eingeführt haben muß man doch versuchen, den heutigen Menschen davon zu überzeugen, daß diese Regeln sinnvoll sind. Überlieferungen könnten ja auch durch Menschen verfälscht worden sein.

Nach den nordischen Überlieferungen der Edda (Völuspá 18) hat jeder Mensch von den Göttern eine Art Götterfunken, “Lá” genannt, mitbekommen. Wenn wir also davon ausgehen, daß jeder Mensch so einen göttlichen Teil in sich hat (und wohl auch jedes Tier), dann bedeutet das in der Konsequenz, daß wir miteinander anders umgehen müssen, daß wir uns der Göttlichkeit unseres Mitmenschen bewußt sein müssen.

Der Gründer der Germanischn Glaubens-Gemeinschaft, Prof. Ludwig Fahrenkrog, hatte bereits am 12. 2. 1912 einige Glaubenssätze zusammengestellt, in denen der Gedanke, daß alle miteinander verbunden sind, enthalten ist:

1). Ich bin körperlich und geistig ein Teil des Weltalls,

2). Ich bin auch der andere (folgt aus 1.),

3). Ich habe die Wahrheit zu suchen, anzuerkennen und zu fördern (gewährleistet den Fortschritt),

4). Die natürliche Grundlage meines Wesens sind meine (deutschen) Väter,

5). Ich bin Gegenwart (diese habe ich zu erfüllen),

6). Die natürliche Fortsetzung meines Wesens sind meine Kinder«.

Einige Monate später hatte Fahrenkrog die Grundlagen so formuliert und auf dem Allthing der GGG in Bad Wildungen, 1912 vorgestellt:

Wir erkennen den Sinn folgender Ursätze an:

1. Ich bin. Ich achte mich und suche meinen Weg zur Wahrheit. Ich bin ein Teil des Alls. D. i. alle Erkenntnis beginnt im Ich. Ich bin das Sein. Gott suchen – die und meine Wahrheit suchen, und meinen Weg dahin gehen ist der religiöse Wille.

2. Du bist. Du bist nichts anderes als ich; denn al­les Leben entstammt gemeinsamer Urquelle. Du bist Gegensatz und Ergänzung. Ich und Umwelt. Ich und Du. Du bist das Außer-Mir. Zunächst Zustand der Erkenntnis des Tiermenschen. Erst wenn ich den Andern als derselben Urquelle ent­stammt erkenne, komme ich aus dem Gegensatz, der KampfsteIlung zur Gemeinsamkeit, zur reli­giösen Du-Stellung und Betätigung.

3. Es ist. Das All ist in mir und ich bin im All. D. i. Sage ich: Ich bin Du, so bin ich auch das All. D. i. Ich bin nicht nur ein Du. Alle Dinge sind der­selben Urquelle entstammt. Es ist kein Unter­schied zwischen Gott – All – oder Menschenseele. Der Mensch ist ein Teil des Ganzen – eine Beson­derheit und doch Gott.

Wem diese drei Ursätze nicht selbstverständlich sind, der ist nicht eigentlich religiös. Es sind Hin­weise auf Ursächlichkeiten. Glaube oder Dogma kommt dabei nicht in Betracht«.

Damit wurden zwar Grundlagen gesetzt, die eine heidnische Ethik begründen, die ethische Lehre selbst aber ist noch nicht ausformuliert. Zu umfangreich und auch kontrovers erschien diese Arbeit. Denn die Ethik der Menschen unserer Jahrhunderte ist immer auch eine zeitgeistbedingte Ethik, bestimmte Vorstellungen unserer Vorfahren stoßen oft genug auf das Unverständnis des modernen, aufgeklärten Menschen. Man wird sich also den Primärquellen öffnen müssen, und dennoch sich bewußt sein, daß nicht alles in der modernen Zeit direkt umgesetzt werden kann. Aus diesem Grunde haben sich einige an der Ethik versucht, und durch eine gewisse Interpretation der Quellen eine art Kernethik herausgeschält. So stellte z. B. der britische “Odinic Rite” einen Kanon von neun edlen Tugenden (“9 Noble Virtues”) auf. Es sind die Tugenden:

Mut, Wahrheit, Ehre, Treue, Disziplin, Gastfreundschaft, Fleiß, Selbstvertrauen, Beharrlichkeit.

Bei einigen dieser Tugenden wird man sofort erkennen, daß es sich um aus den Quellen entnommene Tugenden handelt, z. B. die Gastfreundschaft. Aber inwieweit z. B. Selbstvertrauen oder Fleiß schon unsern Vorfahren als Tugenden galten, ist doch fraglich. Die “lange in den Tag hinein schlafenden” Germanen des Tacitus wirken gerade nicht wie fleißige, beharrliche Menschen. Jedenfalls sind diese 9 Tugenden schon einmal ein Anfang.

Uns Alt-Heiden können natürlich moderne Zusammenstellungen nicht genügen, wir wollen nichts weniger als die Qriginalquellen. Dazu gehört als wichtigste Quelle die Hávamál. In dieser Sammlung von Sprüchen gibt uns Óðinn (Wodan/Rudra/Shiva) selbst Lebensregeln vor, die wir als Richtlinien nehmen sollen. Diese Regeln sind – wie Eddaforscher festgestellt haben – recht diesseitig und praxisbewährt. Óðinn gibt auch Beispiele aus Seinem eigenen Leben. Für uns Alt-Heiden besteht kein Zweifel daran, daß die Lebensregeln der Hávamál von Óðinn stammen und noch in heidnischer Zeit aufgeschrieben wurden. Eine gewisse Ähnlichkeit der Hávamál mit den Disticha Catonis (4. Jh.), die Klaus von See festgestellt hatte, ändert an unserer Haltung nichts, denn wir gehen nicht (wie v. See) davon aus, daß die Hávamál unter Verwendung der Disticha Catonis gedichtet worden sind, sondern wir gehen davon aus, daß es sich um eine uralte Sammlung von Lebensregeln handelt, die es einst in ganz Europa in ähnlicher Form gegeben hatte und wovon die Disticha Catonis nur ein späterer Ausläufer sind.

Auch in den Sigrdrifumál der Edda finden sich Lebensregeln, doch diese stammen von der Valkyre Sigrdrifa, nicht von Óðinn.

Man kann die Lebensregeln thematisch in verschiedene Gruppen ordnen: Weisheit, Freunde und Freundschaft, Feinde, Kampf und Tapferkeit, Liebe, Frauen, Fremde und Reisende, Wohltätigkeit, Gast, Gastmahl und Essen, Trinken, In schlechter Gesellschaft, Pflichten des Wirtes, Vertrauen, Eigentum und Wirtschaft, Öffentliches Leben, Wert des Lebens, Tod-Nachruhm, Eide.

Eine Aufstellung der Lebensregeln in etwa dieser Ordnung gibt es seit über 20 Jahren in unserer “Germanischen Reihe” als Themenheft.

Lebensregeln sind keine Verbote und unterscheiden sich damit von den bekannten christlichen 10 Geboten. Der Unterschied ist die Freiheit des Einzelnen. Der Gott rät uns, wie wir handeln sollten, schreibt es uns aber nicht zwingend vor. Die Entscheidung bleibt bei uns, ihre Folgen müssen dann aber eben auch von uns getragen werden. Nirgends steht: “Wenn Du das nicht tust, wirst Du in der Hölle bestraft”, man handelt nicht aus Angst, sonden aus der inneren Überzeugung und Einsicht heraus. Dennoch kann man auch falsch handeln, was Folgen für das eigene Lebensschicksal hat. Dazu muß man gar nicht so weit gehen, die karmischen Folgen in einem nächsten Leben (die Germanen kannten die Wiedergeburt verbunden mit einer Art Örlög/Karma-Vorstellung) zu nehmen, denn auch im derzeitigen Leben wirken sich die Folgen unseres Handelns aus. Wenn ich mich heute entscheide, zu Rauchen, werde ich vielleicht in 20 Jahren an Krebs sterben, wenn ich mich nicht dafür entscheide, sieht meine Zukunft vermutlich besser aus.

Dem Handeln zu Grunde liegen die heidnischen Werte: Familie, Gastfreundschaft, Ehre, Mut, Freiheit, auch Religion.

Die Lebensregeln der Götter bedürfen allerdings einer Ergänzung. Z. B. wird darin nirgends gesagt, daß man einen Menschen nicht töten darf – das setzte Allvater als selbstverständlich voraus. Hier müssen wir also in die teilweise erhaltenen germanischen Gesetzessammlungen blicken, um diese Gesetze, die ja dem Mythos nach durch den Gott Forseti gekommen sind, kennenzulernen. Auf Grund dieser verschiedenen Quellen ist es also nicht einfach, die germanische Ethik ohne weiteres zu erkennen.

Ich hatte einmal mit jungen Neuheiden diskutiert, und sie stellten sogar das Vorhandensein der Grundwerte “Gut” und “Böse” bei den Germanen in Frage – alle diesbezüglichen Eddastellen wähnten sie christlich beeinflußt. Den Grundgedanken, das hohe Ideal des Guten, Lichten, Reinen, wie es so gut der Gott Balder verkörpert, konnten sie nicht sehen.

Eine Ethik muß an der Natur orientiert sein, muß der Natur entsprechen. Aber in der Natur wirken nicht nur die Götter, die es wachsen und grünen lassen, leider wirken hier auch die Riesen und Dämonen, die alles Wachstum zerstören wollen. Deswegen ist immer Vorsicht geboten, wenn man eine Ethik von der Natur ableiten will.

Die heidnische Ethik kann man vielleichtin einem prägnanten Satz zusammenfassen, den einst moderne Hexen aufgestellt hatten: 

>Tue was du willst und schade niemandem<

Einschränken muß man den Satz aber doch. Unter diesem “Niemand” sind nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und Pflanzen, ja die ganze Natur gemeint. Und das wirft dann die Frage auf: Kann man denn hier auf der Nordhalbkugel überhaupt überleben, ohne nicht anderen zu schaden?

Ja, das geht leider nicht. Im Winter ist es kalt und wir brauchen Holz zum Heizen, also müssen wir Bäume fällen. Bäume sind Lebewesen, die wir für unser Überleben töten müssen. Und wir ernähren uns vorwiegend von Pflanzen, die wir dazu auch töten, desgleichen Tiere, die wir essen. Das zum Überleben Notwendige dürfen wir uns also aus der Natur nehmen, aber wir dürfen die Natur nicht darüberhinaus ausbeuten, vermarkten usw.

Der Hinduismus, der mit unserem Alt-Heidentum recht nah verwandt ist, lehrt die vegetarische Ernährung. Die ist in Indien auch gut möglich, da das dortige Klima ganzjährig Ernten beschert. Auf der kalten Nordhalbkugel aber gibt es die langen Winter, und da wächst nichts. Der Mensch ist also, wenn er überleben will, auf Fleisch angewiesen. Auch wenn man sich bewußt ist, daß fleischlose Ernährung besser ist, konnte man darauf hierzulande doch nicht verzichten. Allerdings hat es der gotische Gott/Priester Zalmolxis versucht, der den Vegetarismus einführte, das Tieropfer und den Weingenuß verbot. Aber auch die (indogermanischen) Griechen kannten Vegetarismus. So schriebder antike Philosoph Plutarch über den Grund des Vegetarismus:

>Könnt ihr wirklich die Frage stellen, aus welchem Grunde sich Pythagoras des Fleischessens enthielt? Ich für meinen Teil frage mich, unter welchen Umständen und in welchem Geisteszustand es ein Mensch das erstemal über sich brachte, mit seinem Mund Blut zu berühren, seine Lippen zum Fleisch eines Kadavers zu führen und seinen Tisch mit toten, verwesenden Körpern zu zieren, und es sich dann erlaubt hat, die Teile, die kurz zuvor noch gebrüllt und geschrieen, sich bewegt und gelebt haben, Nahrung zu nennen …
Um des Fleisches willen rauben wir ihnen die Sonne, das Licht und die
Lebensdauer, die ihnen von Geburt an zustehen.<

Die Germanische Glaubens-Gemeinschaft hatte sich bereits in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zur Reformbewegung bekannt, dazu gehört vegetarische Ernährung und Alkoholverzicht. Heute sehen wir das nicht so streng, sondern überlassen die Entscheidung jedem einzelnen. Alkohol (Bier oder Met) wird nur auf den Festen getrunken, da dies klar überliefert ist, ob man sich vegetarisch ernähren will, oder nicht, muß jeder selbst entscheiden. Ich als Priester lebe vegetarisch, da dies mir den Zugang zu hohen Geistern leichter ermöglicht.

Doch zurück zum Thema Ethik. Man könnte darüber so viel sagen, was hier aus Platzgründen nicht möglich ist. Zusammenfassend kann man sagen, daß wir Alt-Heiden die Ethik anerkennen, die in den Quellen enthalten ist. Daß wir allerdings auch die modernen Gesetze akzeptieren und daher ethische Regeln, die im Widerspruch zu modernen Gesetzen stehen, nicht anwenden. Die Bestrafung eines Verbrechers überlassen wir also dem modernenn Rechtssystem und üben nicht selbst Rache.

Allsherjargode Geza von Nemenyi